VILLA VIVALDI
Musik von Antonio Vivaldi, Mark Scheibe und Moritz Eggert
(Interviews mit Mark Scheibe und Moritz Eggert s.u.)
PROGRAMM:
Antonio Vivaldi (1678–1741): Concerto RV 114 C-Dur: Allegro – Adagio – Ciaccona
Mark Scheibe (*1968): „Villa Vivaldi“
Vivaldi: Concerto RV 104 g-Moll „La Notte“: Largo – Presto (Fantasmi) – Largo (Il Sonno) – Allegro
Vivaldi: Concerto RV 343 A-Dur: Allegro – Largo – Allegro
PAUSE
Vivaldi: Concerto RV 157 g-Moll: Allegro – Largo – Allegro
Moritz Eggert (*1965): „traité des passions“
joie – Freude (Sopranino/Sopran)
tristesse – Trauer (Alt)
haine – Hass (Sopranino)
amour – Liebe (Alt)
désir – Verlangen (Tenor)
admiration – Bewunderung (Sopran)
Vivaldi: Concerto RV 443 C-Dur
Allegro – Largo – Allegro molto
interview mit mark scheibe: Villa vivaldi (2018)

Wie waren deine Anfänge in der Musik?
Mark Scheibe: Ich habe in der Pubertät angefangen, Musik zu machen – mit der Energie, die man in dieser Zeit hat, in der man sich Dingen zuwendet, von denen man noch nichts weiß. Das war eine große Rettung, es gab Lebensfreude, Lust, mit geheimnisvollen Gesetzen einer Welt, die anders ist als die, die ich kannte. Diese Welt verschenkte Freude im Übermaß, ich durfte Dinge erfahren, die ich noch nicht kannte… ich habe mit Freunden improvisiert, ohne genau zu wissen, was wir da tun. Es gab magische Erfahrungen, wenn wir beispielsweise im Dunkeln gespielt haben und genau gleichzeitig aufgehört und nach längerer Pause wieder eingesetzt haben.
Was hast du in diesen Begegnungen gefunden?
In der Beschäftigung mit Musik ist etwas zu entdecken, was ich woanders nicht finde – außer in der Liebe, da gibt es auch diese Magie, diese Synchronisierung der Gefühls- und Gedankenwelten. Diese suche ich auch in der Musik. Es gibt so viele tolle und interessante Musik; auch solche, die Instrumentalisten an ihre Grenzen bringen. Und das handwerkliche Niveau der Musiker ist so hoch. 1991 kam Hape Kerkeling in die Radio-Bremen-Show „Total normal“ mit dem legendären "Hurz"-Konzert, eine total geniale, klischeegewordene Aufdenpunktbringung oberflächlicher Wahrnehmung sogenannter Neuer Musik – ähnlich wie Loriot („Krawehl, krawehl“), dem es gelungen ist, gesellschaftliche Phänomene so auf unterhaltsame Weise zu fassen und besonders den Ernst zu parodieren, und auch die Wichtigtuerei, die sich oft im Ernst versteckt.
Was sind deine persönlichen Hintergründe als Musiker und Komponist?
Manchmal denke ich mir Musik aus und sie vermag mich nicht zu überzeugen, weil ich denke: „Hurz“. Womit ich nicht sagen will, dass alles, was nicht auf den ersten Blick vertraut daher kommt, atonaler Müll sein muss. Ich habe viel Zeit im Theater und Varieté verbracht, als Conférencier, als Komponist und musikalischer Leiter in großen Theatern und auch in kleinen, drittklassigen Klitschen; habe für Schlagerproduktionen Orchesterarrangements geschrieben und Musik für Pornofilme komponiert. Ich beobachte eine große Entfernung zwischen dem, was man heute als „erhaben“ betrachtet, und dem, was als „trivial“ gilt. Ganz grob zusammengefasst: ich finde, dem „Erhabenen“ fehlt es manchmal an Leichtigkeit und Lebensfreude, dem „Trivialen“ an Tiefe und Originalität. Ich möchte in beiden Extremen mitmischen, indem ich eine Musik erfinde, die dazwischen klingend lebt, als Nahrung für die Seele.
Was ist dir beim Komponieren wichtig?
Mir ist wichtig, dass die Musiker beim Spielen meiner Musik Spaß haben, und dass sich diese Freude aufs Publikum überträgt. Ich liebe im Konzertsaal Elemente aus Show und Jazz, ich mag die Leichtigkeit der Kommunikation zwischen Bühne und Publikum z.B. im Jazzkonzert. Deswegen möchte ich auch, dass bei Villa Vivaldi applaudiert werden darf, wenn jemand ein schönes Solo gespielt hat.
Wie ist das Stück „Villa Vivaldi“ aufgebaut?
Ich habe mir eine Villa vorgestellt, ein großes festliches Haus, eine Gastgeberin, und verschiedene Räume, die mit freudigen Erwartungen aufgeladen sind. Hier und da auch mit der Angst, die nie weit ist, wenn man sich selbst zu begegnen droht.
Folgende Überschriften stehen als "Spielanweisungen" über den einzelnen Teilen:
Ein Sommerabend im Garten der Villa Vivaldi, die Gäste treffen ein
Champagnerempfang
Große Pläne machen
Die Gastgeberin kommt
"Da ist sie ja!"
„Folgen Sie mir in den Salon des Verlangens!“
Meditation mit verbundenen Augen
Im Rausch abgründiger Sinnlichkeit
„Kommt! Auf der Terrasse geht die Sonne auf!“
Großes Möbelrücken
Wenn Villa Vivaldi ein Mensch wäre, dann ein lachender, großzügiger – mit einem verführerischen Funkeln in den Augen – und sie ist eine Hommage. An die Lebensklugheit, die Schönheit, die geistige Offenheit und an die Spiellust der Künstlerin.

Moritz Eggert über sein Stück "traité des passions" (2018)
In der Musikgeschichte gibt es zyklische Hinwendungen zu Emotionen. Immer dann, wenn sich eine neue musikalische “Affektenlehre” etabliert, wird diese mit neuer Nüchternheit konterkariert, genauso wie auf Manierismus ästhetische Strenge folgt, oder exaltierte Koloraturen einem natürlicheren Gesangston weichen.
Die Nachkriegszeit, die das Bild der “Neuen Musik” in der Öffentlichkeit maßgeblich geprägt hat, war von Abstraktion und geringer Emotionalität bestimmt. Auch als Gegenreaktion gegen die Gefühlsinstrumentalisierung durch die Nazis war es für Komponisten fast Pflicht, sich möglichst kühl und distanziert zu geben. Aus den Partituren wurden die letzten Überbleibsel der Spätromantik verbannt. Wo vorher farbige und anschauliche Vortragsbezeichnungen das Partiturbild beherrschten, bevorzugte man nun neutrale oder fast mathematische Anweisungen, nackte Tempoangaben, allenfalls mal ein “schneller” oder “langsamer”. Serielle Partituren der 60er Jahre gleichen in ihrem Erscheinungsbild eher Architekturplänen, und Komponisten sahen sich eher als Forscher denn als Gefühlsmenschen.
Dies hat sich auch mit den jüngsten ästhetischen Entwicklungen (z.B. “Konzeptmusik”) nicht entscheidend geändert - nach wie vor sind Partituren heute eher Verrichtungsanweisungen als der Versuch einer poetischen Anregung, es liegen Welten zwischen zum Beispiel einer an assoziativen Vortragsbezeichnungen reichen und psychologisch differenzierten Musik eines Schumanns und einem typischen “Neue Musik” - Werk von heute.
Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder an die Gefühle zu erinnern, die einen großen Teil der Faszination von Musik als Kunstform darstellen. Denn Musik kann Emotionen sehr direkt umsetzen, ohne sie - wie in der Literatur - mit Worten erklären zu müssen.
René Descartes war einer von vielen Philosophen, der versuchte, die menschliche Gefühlswelt zu kategorisieren. In seiner berühmten und auch für die Musik einflussreichen “traité des passions de l’âme” (Lehre der Affekte) beschrieb er 1649 die seiner Meinung nach sechs menschlichen Leidenschaften:
1. Freude (joie)
2. Hass (haine)
3. Liebe (amour)
4. Trauer (tristesse)
5. Verlangen (désir)
6. Bewunderung (admiration)
Mich interessierte, ob es mit den Mitteln Neuer Musik heute möglich ist, diese Affekte rein musikalisch darzustellen, ohne dabei auf konzeptionelle oder textliche Hilfsmittel zurückzugreifen. Die Auswahl von Descartes - über deren Vollständigkeit man natürlich streiten kann - faszinierte mich in ihrer kontrastierenden Abfolge, daher übernahm ich sie unverändert.
Mein Stück “traité des passions” entstand auf Anregung der Blockflötistin Elisabeth Champollion und ist für Barockensemble komponiert. In seiner Form ist es fast ein kleines Blockflötenkonzert, jeder Satz ist einem anderen „Affekt” gewidmet. Doch die Musik geht ineinander über, genauso wie auch Descartes davon ausging, dass sich seine “Affekte” stets in das jeweilige Gegenteil verwandeln oder sich überlagern können.
Unsere Zeit leidet an einem Defizit der Leidenschaften, was viele Menschen in die diffusen Ängste und Verschwörungstheorien treibt, die den Populismus dieser Tage befeuern. Die Sehnsucht nach echten Emotionen und Wahrhaftigkeit sollten wir aber sehr ernst nehmen, denn sie stellt eine Herausforderung unserer Zeit dar. Auf jeden Fall aber ist es besser, den Hass zum Beispiel musikalisch umzusetzen, anstatt ihn in der Wirklichkeit auszuleben. Und ebenso besser ist es, darüber zu philosophieren, wie dieser Hass in Liebe umgewandelt werden kann, vielleicht auch mit Hilfe von Musik.
Moritz Eggert